Die Regie meines eigenen Lebens

30. Mai 2012: Natürlich spüre ich, dass die Eröffnung der documenta näher rückt. Elektrizität ist in der Luft, um mich herum wird hart daran gearbeitet, um die Kunst für das Publikum fertig zu stellen. Mit mir wird nicht gearbeitet, ich bin ja schon fertig.

»Vollkommen fertig« würde ich zu mir selbst sagen. Fertig von all den Erwartungen, die ich in den letzten fast fünfzig Jahren erfüllen musste Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Freund, Ehemann, Kollegen, Mitarbeiter, Vorstandfeinde, Aktionäre, Pressesprecher. Der Künstler meines Erdhügels, Song Dong, zählt nicht dazu. Er bitte mich um nichts, ist sehr zufrieden über das, was ich hier tue. Oder gerade eben nicht tue. Ich scheine seinem Ideal sehr nahe zu kommen.

Jetzt beobachte ich einen Wurm: Er läuft immer geradeaus. Jetzt kommt er an die Tischkante. Sein Oberkörper beugt sich über diese Kante, weicht zurück, beugt sich wieder vor. Dann läuft er kopfüber unter dem Tisch weiter. Ich schaue nach unten und schubse ihn versehentlich von der Unterseite weg. Er liegt auf dem Boden, bewegt sich nicht, fast wie benommen. Jetzt bewegt er sich, läuft weiter, beschreibt einen leichten Bogen. Rechts neben ihm ein anderer Wurm. Nimmt er ihn wahr? Nein, er biegt ab, der andere Wurm auch. Würmer neigen nicht zur direkten Kommunikation mittels Annäherung.

Dieser Wurm sagt mir eigentlich alles über mein Leben. Ich bin immer sehr straight gelaufen in meiner Karriere. Auch kopfüber. Wenn ich unten lag, habe ich mich geschüttelt und bin weiter gelaufen. Die Anderen neben mir haben mich nicht interessiert. Es ging mir nur um mich.

Am liebsten würde ich ihn zertreten, diesen Wurm, wie mein eigenes, altes Leben zertreten. Doch jetzt bewegt sich sein Kopf ein bisschen noch oben, zu mir hoch. Fast, also wolle er zu mir sprechen, mich bitten, ihn am Leben zu lassen. Ja, ich lasse dich leben. Als ich wieder nach unten schaue, ist er verschwunden.

Verschwindet mein altes Leben, wenn ich nicht mehr nach unten schaue? Wenn ich es am Leben lasse? Fast scheint es mir so. Ist ein Wurm als Metapher überhaupt geeignet? Ist das nicht kindisch für eine Chief Human Resources Officer?

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Es kotzt mich an

27. Mai 2012: Ganz ehrlich: Es kotzt mich an! Mein Leben vorher, mein Leben jetzt. Ich bin im Business eine so genannte »Power-Frau«, wie es so schön in der FAS stand (ja, ich lese hier auch, aber mit viel Verzögerung, ich ertrage das Aktuelle im Moment einfach nicht). Ich werde in den Papierkörben des Parks fündig.

»Ich bin nicht ausgestiegen, ich mache nur eine Auszeit. « Das ist mein Mantra der letzten Wochen, aber es klingt nicht wie eins. Ich glaube selbst nicht mehr daran, zurück zu gehen. Wohin zurück denn? In die Welt der Hosenanzüge und Kostüme? In die Konkurrenz mit den anderen Powerfrauen?

Ich sehne mich so sehr nach Geborgenheit, nach Zugehörigkeit, dass es mir schon peinlich ist. Gut, dass ich das hier nicht öffentlich schreiben muss und AK das macht. Ich könnte es nicht. Ich würde mich in Grund und Boden schämen. Ich weiß übrigens auch nicht, ob AK das wirklich in sein Blog schreibt, denn ich verzichte auf alle Medien.

Ist auch gut so, dass ich AK nicht persönlich treffen muss. Er könnte mich ja etwas fragen. Der reinste Horror wäre das.

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Ich war die Müllabfuhr

24. Mai 2012: Der Künstler Song Dong, in dessen Erdhügel ich wohne, hat vor kurzem geschrieben: doing is better than ignoring; to do is to waste; to do even there is no payment. AK hat mir freundlicherweise seine Schrift in unseren »toten Briefkasten« gelegt. Danke dafür. (Ich habe mich entschlossen, den Namen des Künstlers zu nennen, denn ich habe gestern immer mehr Stimmen von außen gehört, die ihn erwähnen. Anscheinend ist etwas öffentlich geworden).

So langsam wird mir klar, warum der Künstler und ich uns getroffen haben: Zum einen wegen des Mülls, zum anderen wegen des Geldes. Habe ich es überhaupt schon gesagt? Der Erdhügel ist ein Hügel aus Müll. Müll umgibt mich also die ganze Zeit. Das ist so gut wie gar nicht anders als in meinem Konzern. Auch dort: Müll wohin ich schaue. Müll auch in meinem Kopf. Bei uns und bei mir im Kopf ist alles so verstopft wie in Neapel, wenn die Müllabfuhr streikt. Überall liegen riesige Haufen von Müll, es stinkt. Niemand will aufräumen. Alle gewöhnen sich langsam daran. Sie produzieren immer weiter Müll, obwohl doch ganz offensichtlich ist, dass es keine Lösung gibt, wenn der Müll nicht abgeholt wird.

Lange Zeit habe ich mich in meiner Firma um die Müllabfuhr gekümmert. Wöchentliche Touren organisiert, eine Sondertruppe zusammen gestellt, die Müllhaufen abtransportiert, für die sich keiner verantwortlich fühlte. Ich bin selbst mitgefahren, habe mich hinten auf das schmale Trittbrett des Mülllasters gestellt. Den ganzen Tag habe ich mit zwei, drei Mitstreitern den Müll eingesammelt.

Es hat überhaupt nichts genützt! Kaum waren wir durch, lag da schon wieder neuer Müll. Von denen, die sich gar nicht bewusst machen, dass der Müll, den sie machen, auch weggeschafft werden muss. Als ich damit aufhörte, den Müll einzusammeln – also die neapolitanischen Verhältnisse eingeführt habe – wurde ich für ebendiese Verhältnisse verantwortlich gemacht.

Jetzt lebe ich hier Tür an Tür mit diesem Müll und habe keine Verantwortung mehr dafür, dass er weg muss! Das scheint der Künstler Song Dong mir sagen zu wollen: Schau‘ doch mal den Müll an! Was da alles drin ist! Er ist nun einmal da, mach‘ die Augen auf!

Und jetzt gucke ich mir den ganzen Müll an. Ich liebe diesen Müll, wie er so da liegt. Nichts regt sich in mir, ihn wegräumen zu müssen. Wie schön, dass der Müll da ist. Er ist Teil meines Lebens, ich komme damit jetzt klar. Klingt irgendwie schon sehr therapeutisch, was hier mit mir passiert. Dann wäre der Künstler also mein Therapeut? Ha.

Dann das Geld. Besser: Die Abwesenheit des Geldes in diesem Kunstwerk: das Tun ohne Bezahlung, to do even there is no payment. Praktisch undenkbar in meiner Rolle als Vorstandsfrau. Unser Gott ist das Geld, der unendliche Fluss des Geldes für unsere Aktionäre, für die Aufsichtsräte, die Vorstände und damit für mich. Wenn das Geld dabei abstrakt ist, umso besser. Die Zahlen müssen größer werden.

Also, sagt mein Künstler: Tu nichts! In seinen Worten: It is improvident to undo it. But to do it is free. Even if free, it should be done.

Also, sage ich: Wenn ich jetzt etwas tue, mache ich das umsonst. Nein, nicht umsonst. Sondern ohne Bezahlung. Das macht mich frei.

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Alles macht Sinn in diesem Augenblick

23. Mai 2012: Heute Morgen stellt sich plötzlich etwas wirklich Bedeutendes ein. Ich sitze am Tisch in meiner Kochnische, in meinem Erdhügel selbstverständlich. Alles, was ich bisher gemacht und erlebt habe, konzentriert sich auf diesen Moment, auf das Sitzen hier. Alles macht Sinn in diesem Augenblick und bricht sich jetzt Bann. Es durchströmt mich, alle Kränkungen, alle Muster, sind ohne Bedeutung. Denn ich bin jetzt 100 Prozent bei mir, lebe den Moment, den ich hier in meiner Erdhöhle genieße. Alles ist richtig, alles ist wahr.

Es klingt wie einem Dora-Heldt-Roman, ich weiß. Deshalb: Besuchen Sie mich. Ja, Sie, die das hier lesen. Besuchen Sie mich, im übertragenen Sinne. Sie wissen schon: Lassen Sie mich Ihre Stimme hören. Tauchen Sie ein in die Energie des Tuns. In die Energie des Nichts. Sie werden schon sehen, was Sie davon haben. Kommen Sie bald. Nein: So schnell wie möglich hier zu diesem Erdhügel. Solange ich da bin. Und Sie höre. Mit Ihren Botschaften. I’m waiting for you, my friend.

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Abgeholt von den documenta-Leuten

20. Mai 2012: Kennen Sie den Film Unheimliche Begegnung der dritten Art? Da hat ein Verrückter die Vision von einem Berg, kippt einen Haufen Erde in sein Wohnzimmer, modelliert diesen Berg. Dann macht er sich auf die Suche, um den Berg in der Realität zu finden. Er trifft unterwegs immer mehr Menschen, die dieselbe Vision haben. Schließlich finden sie den Berg und dort landen dann die Außerirdischen, um die Visionäre in eine bessere Welt abzuholen.

Genauso geht es mir mit diesem Hügel. Als ich ihn gesehen habe, war er mir so vertraut wie nichts anderes vorher. Die Verheißung der besseren Welt, in die ich jetzt gehen darf. Ich bin sehr froh, dass ich abgeholt wurde. Nicht von den Außerirdischen, sondern von diesen documenta-Leuten. Irgendwie habe ich das Gefühl, das ich fast nichts dafür tun musste. Das widerspricht meinen elementarsten Lebenserfahrungen, ich habe immer gekämpft.

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Der immerwährende Kampf gegen den Zynismus der Welt

14. Mai 2012: Meine Pläne waren vollkommen klar, denn ich hatte kurze Zeit vorher im Internet den Aufruf gelesen: Wir möchten Personen dazu aufrufen, sich als Begleiterinnen und Begleiter zu bewerben. Sie werden unsere »Worldly Companions«, weltgewandte Begleiterinnen und Begleiter, und erhalten ein spezielles Training für diese Aufgabe.

Nach einem Telefoninterview und einem ganzen Tag Workshop haben sie mich genommen. So eine Quotenfrau hatte ihnen wohl noch gefehlt. Oder lag es an meinen Antworten?

Frage 1: Was, glauben Sie, macht Sie aus?
Antwort 1: Der immerwährende Kampf gegen den Zynismus der Welt. Oder anders gesagt: Ich war in der Konzernleitung immer dafür, Recycling-Toilettenpapier zu bestellen. Wir sprechen wirklich über so was. Gibt es übrigens auch 5-lagig.

Frage 2: Wenn Sie an Kunst denken, an was denken Sie?
Antwort 2: Kunst mir mal fünf Euro leihe? Oder: Eine Wolf-Vostell-Installation aus BMW-Cabrios.

Frage 3: Was ist Ihr Traum von einer besseren Welt?
Antwort 3: Jeder Mensch ist ein Künstler. Let’s talk about Beuys. Oh yeah, Beuys now. Anders gesagt: Ich glaube, ich bin Teil eines Kunstwerkes. Ich würde gerne herausfinden, von welchem.

Wir bekamen eine dicke Mappe. Sollten uns einige Kunstwerke heraussuchen. Sie ahnen es: Ich wählte den Hügel. Fand es also heraus, Antwort 3 meine ich.

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Auf dem Faltrad in den Sonnenuntergang

Ich verließ damals die Etage mit unendlichen Glückgefühlen. Ich nahm die Treppe, die Mitarbeiter auf den anderen Etagen staunten.

Mich hatte noch niemand
1. so fröhlich,
2. so zu Fuß,
3. so extrem langsam gehend gesehen.

Ich drückte Marcello, dem Pförtner, die Hand! Er ließ sie erst nicht los, so erstaunt war er. »Auf Wiedersehen, Frau Hüter. Bis morgen.«

»Bis morgen in zwölf Monaten« dachte ich zu mir, »oder vielleicht nie mehr.«

Mein Chauffeur hielt mir die Tür auf, ich lachte, schüttelte den Kopf und zeigte auf den Kofferraum. Er verstand sofort, holte das Faltrad raus, klappte es mir auf, ich radelte in den Sonnenuntergang. So gefühlt meine ich.

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Sabbatical

Der Hügel ist meine Rettung aus dem früheren Business-Leben. In meinem alten Cyberspace war ich entweder ganz drin oder ganz draußen. In meinem Erdhügel bin ich ganz drin. Ohne ein Draußen. Schreibe mein Leben auf. So wie jetzt gerade.

Am 18. Dezember habe ich meinen Vorstandskollegen verkündet, dass ich ein Sabbatical brauche. Klug positioniert in der Tagesordnung nach der Boni-Zuteilung. Ich sah zustimmende Gesten, nachdem ich über Burnout-Prophylaxe und Down-Shifting gesprochen hatte. Alle waren zufrieden. Wann hätten meine Kollegen je eine bessere Chance, in den zwölf Monaten meiner Abwesenheit einen Nachfolger in die eigenen Reihen zu lotsen und mich nach meiner Rückkehr geräuschlos abfinden zu können? Ich spreche hier nicht von einer Nachfolgerin, denn die Herren wollen gerne wieder unter sich sein.

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Meine Rettungsinsel

Nur ab und zu die Stimmen von Besuchern, die über den Erdhügel rätseln und Botschaften da lassen.

»Was’n das?«

»Kunst oder so.«

»Sieht ja aus wie eine Mini-Insel.«

Bravo, mein Süßer: Von weitem sieht mein Hügel wie die verkleinerte Version einer Insel aus. Nicht schlecht. Eben eine Rettungsinsel.

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Aber ich kann doch raus

»Warum«, werden Sie fragen, »warum zieht denn der Künstler nicht selbst ein?«.

»Weil«, werde ich Ihnen antworten, »weil mir der Künstler von außen Botschaften geben will. Auf die ich reagieren soll oder nicht.«

Interessanterweise fragen Sie mich nicht, warum es da überhaupt etwas unter dem Erdhügel gibt. Ich habe den Künstler davon überzeugt, mich zu retten. Wenn ich eins kann, dann ist es reden und überzeugen. Er glaubte mir, dass ich diese Rettungsinsel jetzt brauche. 100 Jahre nach dem Untergang der Titanic wurde immerhin eine Seele nachträglich gerettet. In Kassel.

»Hey, hey« werden Sie fragen, »wie schlimm ist das denn. Sie können da nicht raus? Kriegen Sie doch Platzangst.«

Aber ich kann doch raus. Unter der Erde ist ein kleiner Gang entstanden, über den ich alle wichtigen Dinge geliefert bekomme. Dieser Tunnel ist so groß, dass ich da auch durchpasse. Wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, verschwinde ich da raus und kehre über den Gang später wieder in mein Versteck zurück.

Nur: Im Moment will ich gar nicht raus! Ich bin mir selbst genug. Stellen Sie sich doch mal folgendes vor: Alle Gescheiterten, alle im Leben verletzten, hätten so eine Erdhöhle, in die sie sich erstmal zurückziehen könnten. Über das Leben nachdenken, vollverpflegt. In Ruhe gelassen von allen. Keine Zeitung, kein Fernsehen, kein bescheuertes Facebook.

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