Ich war die Müllabfuhr

24. Mai 2012: Der Künstler Song Dong, in dessen Erdhügel ich wohne, hat vor kurzem geschrieben: doing is better than ignoring; to do is to waste; to do even there is no payment. AK hat mir freundlicherweise seine Schrift in unseren »toten Briefkasten« gelegt. Danke dafür. (Ich habe mich entschlossen, den Namen des Künstlers zu nennen, denn ich habe gestern immer mehr Stimmen von außen gehört, die ihn erwähnen. Anscheinend ist etwas öffentlich geworden).

So langsam wird mir klar, warum der Künstler und ich uns getroffen haben: Zum einen wegen des Mülls, zum anderen wegen des Geldes. Habe ich es überhaupt schon gesagt? Der Erdhügel ist ein Hügel aus Müll. Müll umgibt mich also die ganze Zeit. Das ist so gut wie gar nicht anders als in meinem Konzern. Auch dort: Müll wohin ich schaue. Müll auch in meinem Kopf. Bei uns und bei mir im Kopf ist alles so verstopft wie in Neapel, wenn die Müllabfuhr streikt. Überall liegen riesige Haufen von Müll, es stinkt. Niemand will aufräumen. Alle gewöhnen sich langsam daran. Sie produzieren immer weiter Müll, obwohl doch ganz offensichtlich ist, dass es keine Lösung gibt, wenn der Müll nicht abgeholt wird.

Lange Zeit habe ich mich in meiner Firma um die Müllabfuhr gekümmert. Wöchentliche Touren organisiert, eine Sondertruppe zusammen gestellt, die Müllhaufen abtransportiert, für die sich keiner verantwortlich fühlte. Ich bin selbst mitgefahren, habe mich hinten auf das schmale Trittbrett des Mülllasters gestellt. Den ganzen Tag habe ich mit zwei, drei Mitstreitern den Müll eingesammelt.

Es hat überhaupt nichts genützt! Kaum waren wir durch, lag da schon wieder neuer Müll. Von denen, die sich gar nicht bewusst machen, dass der Müll, den sie machen, auch weggeschafft werden muss. Als ich damit aufhörte, den Müll einzusammeln – also die neapolitanischen Verhältnisse eingeführt habe – wurde ich für ebendiese Verhältnisse verantwortlich gemacht.

Jetzt lebe ich hier Tür an Tür mit diesem Müll und habe keine Verantwortung mehr dafür, dass er weg muss! Das scheint der Künstler Song Dong mir sagen zu wollen: Schau‘ doch mal den Müll an! Was da alles drin ist! Er ist nun einmal da, mach‘ die Augen auf!

Und jetzt gucke ich mir den ganzen Müll an. Ich liebe diesen Müll, wie er so da liegt. Nichts regt sich in mir, ihn wegräumen zu müssen. Wie schön, dass der Müll da ist. Er ist Teil meines Lebens, ich komme damit jetzt klar. Klingt irgendwie schon sehr therapeutisch, was hier mit mir passiert. Dann wäre der Künstler also mein Therapeut? Ha.

Dann das Geld. Besser: Die Abwesenheit des Geldes in diesem Kunstwerk: das Tun ohne Bezahlung, to do even there is no payment. Praktisch undenkbar in meiner Rolle als Vorstandsfrau. Unser Gott ist das Geld, der unendliche Fluss des Geldes für unsere Aktionäre, für die Aufsichtsräte, die Vorstände und damit für mich. Wenn das Geld dabei abstrakt ist, umso besser. Die Zahlen müssen größer werden.

Also, sagt mein Künstler: Tu nichts! In seinen Worten: It is improvident to undo it. But to do it is free. Even if free, it should be done.

Also, sage ich: Wenn ich jetzt etwas tue, mache ich das umsonst. Nein, nicht umsonst. Sondern ohne Bezahlung. Das macht mich frei.

Über documenta

Über Briefe und Notizen erhält Andreas Knierim in unregelmässigen Abständen Nachrichten von "Isabelle Hüter". Sie bewohnt, nach eigenen Aussagen, das Kunstwerk von Song Dong "Doing Nothing Garden" auf der dOCUMENTA (13) auf der Karlsaue in Kassel.
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