Unterwegs in Kassel

3. Juni 2012: Wie Sie vielleicht wissen, kann ich hier raus. Ich spaziere durch die Kasseler Karlsaue, schaue mir die Kunstwerke an, die überall entstehen. Einige Künstler scheinen auch in ihren Kunstwerken zu wohnen. Wenn ich das sehe, fühle ich wie in einer verschworenen Gemeinschaft. Die WG ist über den ganzen Park verstreut!

Ich lege mich ins Gras. Am Himmel zwei Flugzeuge. Eines aus dem Osten, eines von Süden. Sie fliegen aufeinander zu! Kommen sich immer näher! Nur noch wenige Meter! Ich kann nichts tun! Die Kondensstreifen kreuzen sich. Beide Flugzeuge fliegen weiter. Wie oft habe ich wohl im Flieger gesessen und das nicht bemerkt. Wie oft habe ich wohl überlebt, ohne dass ich mir dessen bewusst war?

Überhaupt das Fliegen: Natürlich hat mich meine Firma Business fliegen lassen. War immer ein Erlebnis: Die Männer um mich herum sagten mit ihren Blicken: Was macht die denn hier? Die kann so schnell in ihren Powerbook tippen, war bestimmt mal Sekretärin. Interessant dabei: Niemand fragte mich, was ich mache. Keiner der Männer wollte mit mir sein Netzwerk erweitern. Auf bestimmt 3.000 Flügen habe ich nur eine Handvoll Visitenkarten eingesammelt, fast nur von anderen Frauen.

Jetzt betrachte ich, im Gras liegend, meine Visitenkarte: Das Logo meiner Firma hat eine feine Prägung, Das Büttenpapier ist handgeschöpft. Auf der Rückseite alles noch einmal in Chinesisch. Das würde meinem Gastgeber im Erdhügel, dem Künstler Song Dong, gut gefallen. Wir sind uns schon mal begegnet, über die Sprache.

Ich laufe noch ein Stück in Richtung der Innenstadt. Komme an einer Halle vorbei. Unten hat so etwas wie ein Café geöffnet, viele Menschen sitzen draußen beim Mittagessen. Ich habe Hunger, ich gehe hinein.

»Guten Tag, gehören Sie zur documenta? «

»Ja, ich bin Teil eines Kunstwerkes. «

»Na dann: Herzlich willkommen. Wir haben heute zwei Menüs. «

Ich mache meinen Teller ganz voll und setze mich nach draußen: »Ist hier noch Platz? «

Lächeln meines Gegenüber: »Klar. «

Dann Frage meines Gegenübers: »Auch bei der documenta? Ich habe dich noch gar nicht hier gesehen.«

Stolz sage ich: »Ja, auch bei der documenta. Bis jetzt habe ich mich in einem Kunstwerk verkrochen.«

Sie lacht. Wir reden. Eine ganze Stunde lang. Sie weiß alles über die Kunst hier in Kassel. Gibt mir Tipps für Abends und fragt kein einziges Mal, wer ich bin und warum ich hier bin. Die documenta ist schon eine eingeschworene Gemeinschaft. Und sie vermittelt Zusammengehörigkeit, das Arbeiten an einer großen Idee. So was wie ein Beitrag zur Veränderung der Welt. Ich bin dabei.

Über documenta

Über Briefe und Notizen erhält Andreas Knierim in unregelmässigen Abständen Nachrichten von "Isabelle Hüter". Sie bewohnt, nach eigenen Aussagen, das Kunstwerk von Song Dong "Doing Nothing Garden" auf der dOCUMENTA (13) auf der Karlsaue in Kassel.
Dieser Beitrag wurde unter Uncategorized veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.