Erschüttert in den Grundfesten des Lebens

4. Juni 2012: Mein Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist so groß, dass ich mich in meinem Leben sehr oft selbst verleugnet habe. Das wird mir klar, wenn ich an die Begegnung gestern mit der documenta-Frau denke. Ich will so gerne dazugehören! Schon wieder, jetzt eben zur documenta.

Seit 20 Jahren, seit ich meine Karriere bewusst wahrnehme, kämpfe ich um Anerkennung meiner Leistung und meiner Qualifikation. Oft habe ich gedacht: »Wenn ich hier eine gute Arbeit mache, dann sieht das schon einer. « Dann werde ich befördert. Das Spiel geht aber mitnichten so. Beförderung hat nichts, gar nichts mit Leistung zu tun.

Im meinem Leben bin ich auf Leistung geeicht. Ich kenne keine Alternative dazu. Deshalb gibt es für mich auch keine Karriere-Entwicklung mehr. Ich bin im Vorstand, was soll ich in einem anderen Vorstand? In einem Aufsichtsrat?

Hier im Erdhügel ist meine Leistung gleich null. Von mir wird nichts verlangt, außer vielleicht, dass ich anwesend bin. Aber das hat mir bisher keiner gesagt. Ich könnte auch nicht anwesend sein. Das machen, was ich will.

Nur: Was will ich denn? Ich bin erschüttert in den Grundfesten des Lebens. Die kleinsten Begebenheiten erschüttern mich. Das ist so schlimm, eigentlich könnte ich nur noch heulen. Weinkrämpfe kriegen. Ich kriege aber keine Träne raus. Bin ich schon so sehr in die Managerwelt eingetaucht, dass ich nicht mehr weinen kann? Ich fasse es nicht.

Ich weiß, dass es nur noch wenige Tage zur Eröffnung sind. Das Alleinsein wird ein Ende haben, überall am Erdhügel werden Menschen sein. Ob ich das überhaupt aushalten werde? Was wird von mir verlangt während dieser Ausstellung? Soll ich mich bemerkbar machen? Soll ich mal ins Büro meiner Kontaktperson schlendern und beiläufig fragen? Oder sind dann alle bestürzt, dass ich meine Behausung verlassen habe?

Vielleicht haben alle schon vergessen, dass ich überhaupt noch da bin? Nein halt, das stimmt nicht. Ich bekomme regelmäßig Proviant, neue Gaspatronen, Batterien. Vielleicht nur noch ein Automatismus. Was bin ich wert? Soll ich mich das alles fragen? Als Teil eines Kunstprozesses? Der zu einem besseren Leben führt?

Ich werde langsam irre, wenn mich nicht alles täuscht. Ich muss mit jemand reden. Mit wem?

Über documenta

Über Briefe und Notizen erhält Andreas Knierim in unregelmässigen Abständen Nachrichten von "Isabelle Hüter". Sie bewohnt, nach eigenen Aussagen, das Kunstwerk von Song Dong "Doing Nothing Garden" auf der dOCUMENTA (13) auf der Karlsaue in Kassel.
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