Was ist, wenn das hier nicht mehr ist?

13. August 2012: Der Kontakt mit dem Außen bewegt in mir mehr, als ich zugeben mag. Ich denke wieder an ein Morgen, zaghafte Pläne melden sich: Wie geht es weiter? Ich stemme mich dagegen, ich habe doch noch Zeit! Und doch schweben meine Gedanken durch den Erdhügel: Was ist, wenn das hier nicht mehr ist?

Wie gerne hätte ich meiner Mutter darüber berichtet! Ich sah sie, es ging nicht. Habe ich mich geschämt? Wo ist mein Mut geblieben? Ich schreibe ihr:

»Liebe Mama, den letzten Brief habe ich dir, glaube ich, im Alter von 12 Jahren geschrieben. Jetzt schreibe ich dir einen neuen Brief. Das ist sehr gut, um dir meine vielen Gedanken zu sagen. Ich habe mich sehr gefreut, dich zu sehen. Mit dir zu sprechen. Wann haben wir das letzte Mal so intensiv miteinander gesprochen? Das müssen Jahre her sein. Vielleicht sogar länger.

Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat! Ich habe ja immer mit Papa gesprochen und das muss dir weh getan haben. Ihm habe ich alles erzählt, so muss es ausgesehen haben. Aber es war gar nicht so! Über das, was wir letzte Woche geredet haben, habe ich mit Papa nie gesprochen.

Wie gut war es, mit dir über meine Traurigkeit und über meine Abschiede zu reden. Du verstehtst mich, das ist sehr, sehr schön!

Wie schlimm muss es für dich gewesen sein, dass dein einziges Kind offenbar kein Interesse an seiner Mutter zeigt. Heute sage ich dir: Das ist nicht so. Vielleicht war ich durch dieses ganze Karrieredenken auf Papa fixiert, denn er konnte mir wirklich in vielen Dingen helfen. Aber eben nicht in allen: Über Gefühle haben wir eben nicht geredet. Wir haben alles analysiert, alles geplant.

Mit dir konnte ich jetzt über alles sprechen. Über fast alles, ich würde es dir gerne jetzt noch schreiben: Seit vier Monaten lebe ich nicht mehr in meiner Wohnung, seit vier Monaten lebe ich in einem Erdhügel. Ich konnte dir das am Sonntag nicht sagen, ich hatte Angst, du machst dir zu viele Sorgen. Diese Angst habe ich jetzt nicht mehr. Ich weiß, dass du weißt, dass alles gut ist.

Ach ja: Und ich schreibe über mein Leben hier im Hügel! Das Ganze wird auch noch im Internet veröffentlicht. Da ich weiß, dass du nicht ins Internet gehst, kann ich dir das gerne verraten. Ich habe berichtet, dass du kommst. Und eine Frau hat gesagt `Vielleicht erlebst Du eine Überraschung mit Deiner mum.` Sie hat Recht gehabt: Ich habe so was von einer Überraschung mit dir erlebt!

Ich verspreche dir, aus meinem Leben endlich etwas zu machen.

Ich sehe dich gerade lächeln und sagen: Du hast doch schon so viel aus deinem Leben gemacht.

Und trotzdem verspreche ich es dir. Ich habe das Gefühl, mein Leben fängt gerade erst an.

Ich liebe Dich sehr.

Deine Tochter.«

Über documenta

Über Briefe und Notizen erhält Andreas Knierim in unregelmässigen Abständen Nachrichten von "Isabelle Hüter". Sie bewohnt, nach eigenen Aussagen, das Kunstwerk von Song Dong "Doing Nothing Garden" auf der dOCUMENTA (13) auf der Karlsaue in Kassel.
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