Mut. Im Park. Und im Dorf

1. August 2012: Von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen – so habe ich mich letzte Woche gefühlt, als ich mit dem Schlafsack unterm Arm aus meinem Hügel spaziert bin. Auch nachts unter Menschen zu sein, seit drei Monaten habe ich mich das nicht mehr getraut.

Mein Mut führt mich durch diesen wunderbaren Park. Da es keine Wegebeleuchtung gibt, funkeln die Sterne über mir so, wie ich sie noch nie gesehen habe. Oder in Erinnerung habe. Ich bleibe immer wieder stehen. Voller Ehrfurcht ob der Schönheit, die mich umgibt. Ich breite meinen Schlafsack aus. Und schaue jetzt in das Himmelszelt, das mich beschützt. Himmelzelt ist so ein schönes Wort, ich brauche doch gerade ein Zelt!

Ich schlafe so gut wie gar nicht. Alles ist so interessant, so neu. Gestalten, Geräusche, Gerüche. Der warme Wind. Dann schlafe ich doch.

Ich schaffe es am nächsten Morgen nicht weit. Ich entdecke ein Kunstwerk, das nach Kaffee riecht! Kunstwerk ist wirklich untertrieben, denn ich spreche von einem ganzen Dorf, was hier aufgebaut ist. Keiner zu sehen. Zuerst einmal. Dann sehe ich den Kaffeekocher persönlich. Er nickt mir zu.

ER NICKT MIR ZU. Was hat das denn jetzt zu bedeuten? Jetzt spricht er auch noch: »Come in, have a cup of coffee.« Park-Schlafsack-Übernachter lassen sich das nicht zweimal sagen. I will have a cup of coffee for sure. Wir trinken aus Tomatenmark-Dosen, an die kleine Henkel gelötet sind. Es werden einige Tassen. Es werden einige Geschichten. Gareth erzählt, dass er schon seit zwei Jahren hier ist. Lauter Sachen gesammelt und zu diesem Dorf zusammen gebaut hat. Ich fasse es nicht.

Ich erzähle ihm meine Geschichte. Schon wie bei Marcos vom Hypnosehaus ist es für ihn selbstverständlich, dass ich im Erdhügel wohne. Ich habe Probleme damit, dass er keine Probleme damit hat. Sage ich ihm aber nicht. Wir plaudern, Gareth bietet mir an, eine Weile hier zu bleiben. Gerade ist wieder Platz geworden. Denn Teil seiner Kunst ist auch, dass er Platz für Gäste hat.

Im Laufe des Tages erkunde ich das ganze Areal: Mein Lieblingsplatz ist am Eingang des Dorfes. Die Besucher kommen über einen schmalen Pfad, es gibt eine kleine Schranke. Die beiden jungen Frauen am Eingang klären die Gäste auf: Keine Kameras, keine Handys. Bitte abgeben.

Für ihre iPhones oder Nikon-Digitalkameras erhalten die Besucher – eine Kastanie mit handgemalter Nummer! Ich liebe die Gesichter der Menschen in diesem Augenblick des Tauschens. Sie schauen auf die Kastanie, sie schauen auf ihre Kameras und Telefone, die in einem Fach verschwunden sind. Ist das ein fairer Deal? Kriege ich meine Sachen wieder zurück? Ihre fragenden Minen sind das Lustigste, was ich jemals in meinem Leben gesehen habe! Ich könnte stundenlang dort stehen bleiben.

Später am Tag darf ich selber die Kastanien ausgeben. Je neuer das Handymodell desto verschrubbelter die Kastanie ist meine Devise. Dabei besonders schön lächeln und die Frucht sanft in Hand meines Gegenübers drücken. Diese Bewegung entscheidet alles. Vertrauen entsteht durch mein Lächeln und die Liebe in der Übergabe der Nummern-Kastanie. Lächle ich nicht oder bin ich zu zaghaft in der Aushändigung, regt sich sofort Protest. Mein Gegenüber will diskutieren. Dann wird es endlos.

Die Meister der documenta stehen hier an der Schranke. Sie kennen die Menschen. Sie sind liebevoll. Denn sie befreien die Besucher von ihrer materialistischen Last. Und von ihrem Zwang, alles dokumentieren zu müssen. Sie machen aus den Gästen des Dorfes wieder Menschen, die wieder durch ihre eigenen Augen blicken und ihre Eindrücke auf den Smartcards in ihrem Köpfen speichern.

Wenn ich über die Besucher lache, lache ich über mich: Mein Blackberry hätte ich nie aus der Hand gegeben. Ich wäre an der Schranke umgedreht. Niemals ohne diesen Herzschrittmacher, der mir den Takt des Lebens vorgibt! Vorbei. Keine Ahnung, wo das Ding gerade liegt und den letzten Rest Energie aus seinem Akku saugt. Wacker E-Mails auf das Display pusht. Niemand schaut mehr drauf. Es muss allein klar kommen.

Ich kann nicht mehr schreiben. Ich muss zuviel lachen. Morgen mehr.

Über documenta

Über Briefe und Notizen erhält Andreas Knierim in unregelmässigen Abständen Nachrichten von "Isabelle Hüter". Sie bewohnt, nach eigenen Aussagen, das Kunstwerk von Song Dong "Doing Nothing Garden" auf der dOCUMENTA (13) auf der Karlsaue in Kassel.
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