23. Juli 2012: Wenn alles nicht mehr wäre, was würde dann bleiben? Mir würde die Liebe zu den Menschen bleiben. Zu den Menschen, die jeden Tag zu »meinem« Erdhügel kommen und hier verweilen. Ich kenne diese Menschen nicht und trotzdem spüre ich für diese Menschen so etwas wie Liebe. Ich bin mit ihnen verbunden, obwohl sie mich gar nicht sehen können.
Ich bin sehr verblüfft über diese Gefühle, die mich hier jeden Tag durchströmen. Ich habe mich in den letzten drei Monaten – seit ich hier lebe – sehr verändert. Aus der Ablehnung meiner Selbst ist die Liebe meiner Selbst geworden. Und daraus ist die Liebe zu all diesen Menschen entstanden!
Aus der Einsamkeit ist für mich Gemeinschaft geworden. Ich fühle mich wirklich gemeinsam mit diesen Menschen auf der documenta. Wie ein unsichtbares Band sind wir verbunden. Die Künstler haben wahrscheinlich dieses Band geknüpft, dazu die Leiterin und all die anderen documenta-Leute. Sie scheinen für etwas zu kämpfen, für etwas Neues, das Hoffnung geben soll. Ich spüre diese Hoffnung sehr deutlich und will Botschafter dieser Hoffnung sein.
Können Sie diese Hoffnung auch spüren? Und wenn es etwas Neues gibt, was ist das?
(Zum ersten Mal interessiere ich mich dafür, dass Sie mir antworten. Sie müssen aber nicht. Ich nehme es so, wie es kommt.)
Ja. Ich habe das auch gespürt. War am vorletzten Wochenende auf der documenta, zwei Tage, viel zu kurz – will, muss, WERDE im September noch einmal einen Tag dort verbringen, denn ich konnte längst nicht alles sehen.
Meine Vermutung: das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile. Die geballte Energie der in Kassel versammelten Kunst, die Kraft und Intention der Einzelwerke und schließlich die konzentrierte Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher – all dies ist wie ein Motor, der innere Prozesse antreibt, Erkenntnis vermittelt und, ja, auch Nähe schafft. Man spricht sich leichter an, dort auf den Wiesen, in den Ausstellungen, im Café beim Ausruhen.
Ich habe gelesen, dass es bei der documenta – wie bei allen großen Unternehmungen – natürlich auch Unstimmigkeiten gegeben hat, Empfindlichkeiten, Kränkungen, Ablehnungen, Abneigungen, die ganze Menschelei halt, wenn Leute gemeinsam etwas auf die Reihe bekommen wollen, aber es dabei halt doch eine große Hierarchie gibt, Machtgefälle, Vorlieben, Kommunikationsprobleme. Mir war es aber leicht möglich, diesen ganzen Tratsch links liegen zu lassen, die Kritikaster zu überlesen und zu überhören und mich einfach hinzugeben.
Und ich vermute, genau dies ist die Magie dieser gewaltigen Ausstellung, die zuverlässig einsetzt, Turnus für Turnus, egal wer kuratiert, egal wer ausstellt: sie zieht uns in ihren Bann. Sie ermöglicht, Dinge zu sehen, die wir anders niemals beachten oder bemerken würden. Und der Blick nach außen ist ja immer auch ein Blick nach innen.
Es ist, glaube ich, die Kabbala, in der ein wunderbares Bild des Göttlichen beschrieben wird, nämlich dass das ganze Universum nichts anderes ist als eben dieses Göttliche, das sich ins Unendliche hinein aufgespalten hat, um sich in seinen Teilen selber zu erkennen. Sie haben diese Wahrnehmung ja auch schon von sich selbst beschrieben – so erleben wir uns als mehr als das, was Haut und Geist begrenzen.
In esoterischen Kreisen kommt der Satz „wir sind alle verbunden“ oft sehr billig und manipulativ daher. Und doch steckt eine tiefe Wahrheit darin, die mir vor langer Zeit einmal ein der Physik Kundiger erklärte: die Verteilung der Atmosphäre ist so fein und schnell, dass wir zu Lebzeiten immer wieder Moleküle unseres ersten Atemzuges atmen. Oder des letzten unserer Mutter. Ich habe darüber mal ein Lied geschrieben, dieses: http://www.youtube.com/watch?v=tw4on15SYWY
Gerade las ich in der ZEIT einen Artikel über die Situation in Spanien, der ein bitteres Fazit zog: Kunst ist eben doch Luxus. Erst kommt das Fressen, und dann? Die Moral? Die Kunst?
Ich glaube, dass das nicht stimmt.
Kunst ist Lebensmittel, in den schlimmsten Zeiten auch Überlebensmittel, das war sie immer schon. Nicht einmal die unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben bringt die Künstler zum Schweigen. Die Kostbarkeit von Bleistiftstummeln und Papierfetzen in den Konzentrationslagern! Die Kraft auswendig gelernter Gedichte, wenn alle Bücher verbrannt waren! Die Botschaften zwischen den Zeilen, überlesen von der Zensur! Die mitreißende Macht der Lieder, die länger leben als die Sänger!
Unsere Spezies heißt „homo sapiens“, aber weise sind wir nicht immer – vielleicht sollte sie „homo artificiens“ heißen, der kunstschaffende Mensch – erwächst unsere wenige Weisheit nicht genau daraus?