Ich blühe wie eine Rose

5. August 2012: Wie schön ist es, meine Mutter dort im Café sitzen zu sehen. Sie hatte nie viel Bedeutung in meiner Entwicklung – so habe ich das immer geglaubt. Doch jetzt durchströmen mich starke Gefühle. Ich bleibe erst noch eine Weile stehen, bis ich sie anspreche. Sie freut sich sehr! Das überwältigt mich, zum ersten Mal in meinem Leben.

Ich hatte irgendwie vergessen, dass ich eine Mutter habe!

Sie interessiert sich sehr für mein Befinden: »Du siehst gut aus. So rosig.« Das ist eine sehr schöne Bezeichnung für meinen Zustand: Ich blühe wie eine Rose.

Ich kann ihr nicht sagen, dass ich im Erdhügel wohne. Sie würde sich sofort noch mehr Sorgen machen. Ich erzähle ihr trotzdem von meinen Erlebnissen, ist doch egal, woher ich sie habe und wo ich wohne. Sie hört zu, sie fragt ab und zu. Habe ich vergessen, dass meine Mutter das mindestens genau so gut kann wie mein Vater? Ja, das habe ich vergessen!

Zwischendurch schauen wir uns nur an. Schweigen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit meiner Mutter geschwiegen zu haben. Nichts ist peinlich, alles ist gut. Mir kommen die Tränen, meine Mutter gibt mir ein Taschentuch. Sie nimmt sich auch eins!

Wir bleiben lange zusammen. Ich lade sie ein, den Erdhügel von außen zu betrachten. Sie bleibt lange dort, setzt sich hin. Schweigt. Schaut mich an. Lächelt. Weiß sie doch etwas? Ich sage nichts.

Ich muss ihr versprechen, sie anzurufen. Ich verspreche ihr, einen Brief zu schreiben. Schreiben gefällt mir wesentlich besser als Telefonieren.

Danach bin ich noch einmal für eine Nacht bei Gareth. Nicht, was Sie denken (vor allem, weil ich AK erlaubt habe, diesen einen Text lesen zu dürfen). Es war einfach schön, mit jemanden zu reden, der auch mit der documenta verbunden ist. In einem Kunstwerk lebt. Und ich erzähle ihm über die Begegnung mit meiner Mutter, die so schön war. Ich meine, beides war schön: die Begegnung und meine Mutter.

Gareth ermuntert mich, seinen Nachbarn Pierre Huyghe zu besuchen. documenta-Besucher wissen schon: die Skulptur mit dem Bienenschwarm, den zwei Hunden. Dort treffe ich einen ernsten jungen Mann, der auch jeden Tag in einem Kunstwerk lebt. Sich um die Hunde kümmert. Er sagt, wie sich sein Leben seit der documenta verändert hat. Es ist wie bei mir, ich fühle mich wieder verbunden. Abends geht der junge Mann dann nach Hause, um am nächsten Morgen wieder im Kunstwerk zu sein. Fast so wie ich also. Mit einem entscheidenden Vorteil: Er hat ein Zuhause.

Über documenta

Über Briefe und Notizen erhält Andreas Knierim in unregelmässigen Abständen Nachrichten von "Isabelle Hüter". Sie bewohnt, nach eigenen Aussagen, das Kunstwerk von Song Dong "Doing Nothing Garden" auf der dOCUMENTA (13) auf der Karlsaue in Kassel.
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