Geführt sein

19. August 2012: Ich mache eine Führung über die documenta. Nicht zu meinem Erdhügel, das könnte ich nicht ertragen: Ein Fremder würde um mein Haus führen und erklären, was es zu bedeuten hat – unvorstellbar.

Ich treffe meine Gruppe am Hauptbahnhof. Gruppe ist für mich eine große Herausforderung. Wie sehe ich überhaupt aus? Sieht man mir die lange Zeit im Hügel an? Was ist mit meinen Haaren? Hat mein Kleid Flecken? Sind die Schuhe geputzt?

Ich muss lachen, denn eine Sekunde nachdem ich diese Gedanken gedacht habe, ist es mir egal, wie ich aussehe. Ich strahle doch von innen! Die Menschen in meiner Gruppe spüren das und strahlen zurück.

Ich habe mein altes Nokia-Handy gefunden. Okay, ich hatte es zur Sicherheit damals eingesteckt. Aber dann vergessen. Ehrlich. Akku noch fast voll, Nokia eben. Heute nehme ich es mit zur Führung. Nicht zum telefonieren, sondern zum fotografieren. Es ist eine Art Schutz für mich, ich halte die Gruppe ein wenig auf Abstand.

Wie gut, das es »Vielleicht Vermittlung« heißt. Ich kann mir auswählen, was ich mitnehmen will. Oder mich einfach verweigern, stehen bleiben, weiter gehen. Ein wichtige Schule: Nicht mehr die freundliche Frau sein, sondern das sagen, was ich wirklich für mich will. Und eben nicht will.

Als wir dann an den Gleisen stehen und die Cello-Musik hören, fühle ich mich frei wie noch nie in meinem Leben. Die Sonne brennt auf mich herab, sie geht ganz einfach durch mich und verbindet sich mit der Erde. Seit ich in meinem Hügel lebe, bin ich in der direkten Verbindung zur Erde. Auch ohne diese Heimat bin ich verbunden, rieche die Erde, spüre die angenehme Kühle.

Im Bahnhof gibt es auch einen Erdhügel, sehr komfortabel mit Treppe und Beleuchtung. Auch da bin ich verbunden. »Gnosis« heißt das Ganze und, wenn ich mich an mein Griechisch erinnere, soviel wie »Erkenntnis«. Dass Erdhügel Erkenntnisse hervorbringen – wer wüsste das besser als ich.

Danke der Worldly Companion für diese Führung. Noch vor ein paar Monaten war ich getrieben. Jetzt bin ich geführt. Durch diese Frau. Durch die Gruppe. Durch die documenta. Durch mich selbst.

Über documenta

Über Briefe und Notizen erhält Andreas Knierim in unregelmässigen Abständen Nachrichten von "Isabelle Hüter". Sie bewohnt, nach eigenen Aussagen, das Kunstwerk von Song Dong "Doing Nothing Garden" auf der dOCUMENTA (13) auf der Karlsaue in Kassel.
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