Der Panzer aus meiner Karriere kriegt ein Loch

7. Juni 2012: Ich bin draussen vor dem Erdhügel. Ich muss einfach hier draussen sein, um die Menschen auch zu sehen, deren Stimmen ich sonst nur höre.

Meine Gefühle brechen immer weiter durch, ich bin euphorisch, ich weine. Als ob die letzten 20 Jahre jetzt rauskommen müssen. Ich bin in einem Augenblick völlig fertig und verzweifelt, in einem anderen voller Glück des Moments. Es ist meine Metamorphose in einem Berg aus Müll. Der Panzer aus meiner Karriere kriegt ein Loch nach dem anderen, wo die Gefühle reinkriechen dürfen. Und rauskriechen dürfen!

Die documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev habe ich beim Interview gesehen: Sie spricht von »Formen der Einbildungskraft«, von »nichtlogozentrischen Visionen«, die dem »beharrlichen Glauben an wirtschaftliches Wachstum skeptischen gegenüber stehen«. Die Frau spricht, als würde sie mich kennen! Ich bin genau an der Grenze zu etwas ganz Neuem in meinem Leben. Kein wirtschaftliches Wachstum, menschliches Wachstum.

Sie sagt auch, dass »verschiedene Formen des Wissens das Herz der aktiven Übung, sich die Welt neu vorzustellen, bilden«. Genau da bin ich! Ich kann es viel einfacher beschreiben, wie einer Begegnung.

Ich saß vorhin im Café als weitere Übung meiner Freiheit. Als Frau Anfang 50 bin ich gänzlich unsichtbar für alle Männer. Eine jüngere Frau setzte sich zu mir, vielleicht 30 Jahre alt. Sie war völlig begeistert von Song Dongs Erdhügel: »Es ist, als strahle dieser Doing Nothing Garden reine Energie aus. Kommt Ihnen komisch vor, was ich sage, oder?«

Ich lächelte: »Nein, überhaupt nicht. Geht mir auch so.«

»Das geht Ihnen auch so? Da bin ich aber froh. Ich habe nämlich öfters so was: Von einem Augenblick auf den Anderen kommen so viele Gefühle in mir hoch, dass ich heulen muss.«

Ich konnte es kaum fassen: Dieser Frau geht es so wie mir, nur eben 20 Jahren früher. »Und wie geht es Ihnen dann?«

»Sofort besser. Es muss einfach raus.«

Mein Gott, warum habe ich das jetzt erst so spät rausgelassen? Was für eine verdammte Scheiße ist das? Musste ich erst 50 werden, um es rauszulassen?

»Alles okay bei Ihnen? Sie sind so blass!« Die junge Frau an meinem Tisch schaute mich besorgt an.

»Nein, alles prima. Ich habe nur gerade gedacht, dass ich 20 Jahre länger gebraucht habe, um das zu fühlen, was Sie gerade fühlen.«

Dann lächelte sie mich an: »Ist keine Frage des Alters. Gefühle kommen eben genau dann, wenn sie dran sind.«

Sie war ein Engel, der mich wirklich tröstete. Ich lächelte zurück und dankte – wem auch immer -, dass ich hier in diesem Café mit dieser jungen Frau in Sichtweite meines Erdhügels sitzen und über Gefühle reden durfte.

Über documenta

Über Briefe und Notizen erhält Andreas Knierim in unregelmässigen Abständen Nachrichten von "Isabelle Hüter". Sie bewohnt, nach eigenen Aussagen, das Kunstwerk von Song Dong "Doing Nothing Garden" auf der dOCUMENTA (13) auf der Karlsaue in Kassel.
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